Zwischen Abraham und Prometheus, Kierkegaard und Marx
■ Wolfgang Geiger sprach mit dem französischen Philosophen Prof. Dr. Dr. Roger Garaudy, der Christ, Marxist und Moslem war.
Auf dem von der Stiftung Niedersachsen vom 21. bis 27. Mai in Hannover veranstalteten internationalen Kongreß Geist und Natur hielt der französische Philosoph und ehemalige Chefintellektuelle der KPF Roger Garaudy einen Vortrag mit
dem Titel Meaning of Life and Dialogue of Culture im Rahmen eines Symposiums zum Thema Religion and World View – eine Gelegenheit, ihn wenige Wochen vor seinem 75. Geburtstag am 13. Juli in der Retrospektive nach seinem Verhältnis zur Religion zu befragen. Hierzulande war Garaudy in den sechziger Jahren als Vordenker einer Öffnung der KPF bekannt geworden, besonders durch die öffentlichen Streitgespräche mit Sartre und dem Existentialismus auf der einen Seite und mit führenden Vertretern der christlichen Kirchen im Rahmen eines christlich- marxistischen Dialogs auf der anderen Seite. Seine Kritik am sowjetischen Einmarsch in Prag, Ausgangspunkt für eine grundlegende Kritik des „sowjetischen Modells“ und seine politische Solidarität mit der 68er-Bewegung in Frankreich führten 1970 seinen Parteiausschluß herbei. Als einer der ersten linken Theoretiker griff Garaudy Anfang der siebziger Jahre die Ökologieproblematik auf und engagierte sich dann vor allem für einen weltweiten Kulturdialog. 1983 erregte er durch seinen Übertritt zum islamischen Glauben international Aufsehen. Auf deutsch ist von ihm zuletzt ein autobiographisch geprägter philosophie- und religionsgeschichtlicher Rückblick erschienen: Biographie des 20. Jahrhunderts.
taz: Monsieur Garaudy, ich möchte Ihnen gerne ein paar Fragen zur Bedeutung stellen, die der Glaube auf Ihrem persönlichen wie philosophischen und politischen Weg gespielt hat.
Roger Garaudy: Das ist in der Tat eines der zentralen Probleme meines Lebens. Was mich sehr geprägt hat, ist, daß ich im Jahre 1933 zwanzig Jahre alt gewesen bin. 1933, das war wirklich ein Moment der Apokalypse, ein Bruch in der Geschichte. Nicht nur die große amerikanische Krise, die seit 1929 auch Europa überzog. Es war die Katastrophe, man schlachtete die Milchkühe in Holland ab, man verbrannte den Weizen, man verbrannte die Bücher in Nürnberg, Hitler war an die Macht gekommen, Mussolini auf dem Höhepunkt, es war wirklich die Katastrophe auf der ganzen Linie. Nun, ich stammte aus einer Familie, die atheistisch war, was die Religion
betraf, und konservativ in politischer Hinsicht. Antworten auf unsere Probleme konnte ich da nicht gerade finden. Zu jenem Zeitpunkt schien mir das grundlegende Problem darin zu bestehen, einen geistigen Halt zu finden angesichts dieser aufeinanderprallenden Willen zur Macht, zum Wachstum, zur Ausdehnung - was die geistigen Wurzeln dieser Krise waren, bedingt durch Positivismus und Individualismus, wie ich es gestern auch dargelegt habe. In dieser Situation wurde Kierkegaard für mich zu einer großen Erfahrung. Das Opfer Abrahams in Furcht und Zittern war für mich das Beispiel für die Bedingtheit des Menschen gegenüber absoluten Werten. Christ und Kommunist
Auf diesem Weg bin ich Christ geworden. Zugleich war ich frustriert, weil ich im Christentum keinen Weg fand, wie dieses hohe Ideal, das ich von Kierkegaard hatte, in der Gesellschaft, in den gesellschaftlichen Strukturen verwirklicht werden konnte. Was mir bei Kierkegaard gefiel, war die Unbedingtheit Gottes über allen beschränkten Ideologien und Moralvorstellungen, das unbedingte Opfer. Aber dem zum Trotz habe ich niemals im Christentum, in seiner ganzen Geschichte, eine politische Verkörperung dieses Ideals finden
können. So habe ich mich anderswo umgesehen, und ich habe es im Marxismus entdeckt. Ich suchte bei Marx keine Metaphysik; er hat uns vielmehr eine wunderbare Methode zur Analyse der Widersprüche in dieser Gesellschaft gegeben und daraus folgend, von dieser Analyse ausgehend, das Projekt, das es ermöglicht, sie zu überwinden. Mein ganzes Leben lang, muß ich sagen, stand unter der Frage: Kann man -- ja oder nein -- Kierrkegaard und Marx zusammenbringen, Abraham und Prometheus. Das ist das zentrale Problem...
In meinen Erinnerungen, die ich augenblicklich schreibe, zeige ich auf, daß alle Episoden meines Lebens Etappen auf diesem Weg waren, eine Antwort auf dieses Problem zu finden, wovon, so glaube ich, heute unser Überleben abhängt. Ich versuchte also, beide Enden dieses Fadens in Händen zu halten, und so gesehen habe ich zwar verschiedenen Gemeinschaften angehört, aber stets dasselbe Ziel vor Augen gehabt.
taz: Hat Ihnen Ihr Eintritt in die KPF unter Aufrechterhaltung Ihres christlichen Bekenntnisses Schwierigkeiten gebracht?
Roger Garaudy: Ja, das hat mir Schwierigkeiten eingebracht..., aber es war nicht der Grund für meinen Parteiausschluß. Ich muß sagen, Maurice Thorez, dessen Ära als Parteivorsitzender die große Zeit der KPF darstellte, war ein Mann von großer Aufgeschlossenheit solchen Dingen gegenüber, er hatte sehr gut verstanden, was mir am Herzen lag, und er hat diese Möglichkeit der Versöhnung von Kierkegaard und Marx nie bestritten. Nicht dieses Problem war der Grund für meinen Ausschluß, sondern meine Haltung hinsichtlich der revoltierenden Studenten und hinsichtlich der Ereignisse
in der Tschechoslowakei 1968. Nun, und warum jetzt der Islam... Ich springe zum anderen Ende über, es geht aber immer noch um dasselbe Problem. Wenn der Koran nur aus den Suren bestünde, die Mohammed in Mekka offenbart wurden, wäre es ein Buch, das sehr dem Evangelium ähneln würde, eine Predigt über die Reinheit des Lebens, die Moral, die Befolgung des rechten Wegs, kurz, er hat bis dahin eine Dimension der Innerlichkeit, und dann aber, plötzlich, während auf Mohammeds Kopf in Mekka ein Preis ausgesetzt wird, kommt er nach Medina und wird sozusagen ein „Staatschef“. Stellen Sie sich nun vor, Jesus wäre Staatschef geworden, wie sich seine Lehre in den gesellschaftlichen Strukturen vergegenständlicht hätte. Diesen Eindruck gewinnen wir in etwa bei Mohammed. Bannfluch und Dialog In Medina ist er gezwungen, Lösungen für soziale, politische und andere Probleme zu finden. Und im Großen und Ganzen ist es das, was ich gestern abend- gesagt habe..., diese Idee, die drei recht einfachen Themen, daß Gott allein befiehlt, Gott allein besitzt, Gott allein weiß -, darin liegt meines Erachtens das große Prinzip der Inkarnation dieser Lehre, der Lehre Jesu und der Lehre Mohammeds von Mekka: Der Mensch, das Individuum, ist relativ..., sein Besitz, sein Wissen sind relativ. Das habe ich also auf getrennten Wegen im Christentum, im Marxismus und im Koran gesucht - im Koran! Ich sage nicht: in der geschichtlichen Tradition, die sich auf ihn beruft...
Nietzsche sagte einmal: Was ist das Christentum? - So ungefähr alles, was Jesus verurteilt hätte. Und ich glaube, recht oft kann man auch sagen: Was ist
die islamische Tradition? So ungefähr alles, was der Koran verurteilt... Aber in seinen Prinzipien fand ich eben die Prinzipien der Lösung, die ich gesucht habe. Hier haben Sie im Überblick meinen ganzen Lebenslauf, das Problem, wie ich es mir 1933 stellte: Christentum - Marxismus, Kierkegaard - Marx, Abraham - Prometheus, und im Islam... - nein, nicht im Islam, man denkt da
immer gleich an eine islamische Tradition... -, in der Lehre des Koran, die man nicht mit den Augen der Toten lesen darf... Man muß ihn, so meine ich, als die Offenbarung eines Gottes der Semiten lesen, das heißt, der in der Geschichte interveniert, und da er transzendent ist, spricht er nur durch Gleichnisse, wie der Mensch auch nur in Metaphern und Analogien sprechen kann.
Ich fand da also die Synthese, wenn Sie so wollen. Das klingt recht hegelianisch, These, Antithese, Synthese, aber im Großen und Ganzen ist es schon so. Da haben Sie nun die beiden Enden meines Lebens und auch die Kontinuität darin. Da man Sie nun gebeten hat, am Vorabend meines 75.Geburtstages danach zu fragen... Sie wissen, meine größte Freude - das habe ich irgendwo auch geschrieben - ist, daß ich mit 75 Jahren das Gefühl habe, meinen Träumen von damals, als ich zwanzig war, treu geblieben zu sein.
taz: Nach Ihrer Bestandsaufnahme 1968, was aus dem Marxismus in Osteuropa geworden ist und welchen Weg die KP in Frankreich ging während dieses doppelten Frühlings in Prag und Paris, sowie den Schlußfolgerungen daraus und ihrem Parteiausschluß - sind Sie dann zunächst wieder zu den Christen zurückgekehrt...
Roger Garaudy: ...ich bin nicht zu ihnen zurückgekehrt, denn ich hatte sie nie verlassen. Zwölf Jahre lang habe ich die Dialoge zwischen Christen und Marxisten organisiert, was zwar oft schwierig war, denn von seiten der Christen sah man mich als gefährlich an, und in den Augen der Marxisten ging ich zu weit, aber ich habe stets versucht, beide Enden des Fadens in Händen zu halten. Diese Fragestellung finden Sie in Von Bannfluch zum Dialog (1965), das den Untertitel trug: „Ein Marxist wendet sich ans Konzil“, und sogar in den dogmatischsten Büchern wie L''Eglise,, le communisme et les chretiens (1948), habe ich erklärt, daß die Christen in unserem Kampf einen Beginn ihres Himmelreichs finden müssen. Als Illjitschov seinen berühmten Text schrieb, daß man keinen Sozialismus aufbauen könne, solange die Religion bestehe, habe ich dem widersprochen. Das war das erste Mal, daß ein Kommunist, ein Kommunist aus dem Westen, eine führende sowjetische Persönlichkeit angriff... Ich habe gesagt, daß diese Haltung dem Marxismus vollkommen entgegenstünde. Also, ich meine damit, ich bin nicht zu den Christen zurückgekehrt. Vom Bannfluch zum Dialog wurde in vierzehn Sprachen übersetzt, Karl Rahner schrieb das Vorwort zur deutschen Ausgabe, ein Experte des Konzils, ein Jesuit, und so geht das bis heute weiter, als ich mein Buch Biographie des 20. Jahrhunderts geschrieben habe, das unter anderem meinen Weg zum Islam zeigt, war der größte katholische Theologe Frankreichs, Pater Chenu, bereit, ein Vorwort dazu zu schreiben. Ich will damit sagen, es gibt keinen Moment in meinem Leben, wo ich zu diesem oder jenem zurückgekehrt wäre. Immer hatte ich Abraham und Prometheus, Kierkegaard und Marx vor Augen. Was ich damals, nach meinem Parteiausschluß 1970, unternahm, war kein Schritt zurück, sondern, nachdem ich Marchais und der Parteiführung vorgeworfen hatte, kein Projekt für die neuen Herausforderungen zu haben, die '68 gestellt wurden, habe ich selbst einen ersten
Versuch unternommen, der als Buch unter dem Titel Reconquete de l''espoir (1971) erschien, und viel umfassender habe ich es dann in Die Alternative (1972) entwickelt. 1968 war etwas radikal Neues entstanden, das heißt, während für Marx die Kritik der Widersprüche des Systems im Zentrum gestanden war und er aufzeigte, wie daraus etwas anderes entstehen konnte, so wurde sich die Jugend, und nicht nur die studentische Jugend, 1968 darüber bewußt, daß das kapitalistische System viel bedrohlicher ist, wenn es Erfolg hat, als wenn es scheitert. Das scheint mir das Wichtigste an '68 zu sein, es gab keine Krise, als die größte Bewegung entstand, die Frankreich jemals gekannt hatte: Zehn Millionen Arbeiter im Streik, alle Universitäten besetzt... Der Kapitalismus war damals in guter Verfassung, es gab keine nennenswerte Arbeitslosigkeit, das Wirtschaftswachstum betrug vier Prozent, keine Inflation..., alles war bestens.
Nun, warum bricht so etwas aus? Weil das System durch seinen Erfolg gefährlich schien, nicht durch seinen drohenden Zusammenbruch. Das ist das große Problem, und folglich hieß revolutionär sein nicht mehr, ständig zu wiederholen, daß der Kapitalismus seine Widersprüche verschleiert, was
wahr blieb, sondern vor allem ein Projekt zu finden... Es ging darum, zu zeigen, was man diesem System entgegenstellen konnte, und diese Idee habe ich dann weiterverfolgt... in Die Alternative und im Aufruf an die Lebenden (1979)...
taz: Die siebziger Jahre über haben Sie zu Fragen des Christentums geschrieben, zugleich haben Sie Ihr Konzept des „Kulturdialogs“ entwickelt, das ansatzweise schon in den sechziger Jahren vorhanden war.
Roger Garaudy: In den sechziger Jahren ging es vor allem um den Dialog zwischen Christen und Marxisten. Eines schönen Tages jedoch, 1974, auf dem Ökumenischen Rat der Kirchen, wo Vertreter der katholischen Kirche (allerdings nur in beratender Funktion), der protestantischen und der orthodoxen Kirchen zusammenkamen und darüber hinaus drei Kommunisten vertreten waren, ein Spanier, ein Italiener und ich, da habe ich einen neuen Vorschlag unterbreitet.
Moslem Garaudy
Davon ausgehend, daß der Dialog zwischen Christen und Marxisten einen gewissen Endpunkt erreicht habe, derjenige, der verstehen wolle, verstanden habe, und derjenige, der dies nicht wolle, sich dem eben verwehren könne, sei es nun wichtig, sich darüber klar zu werden, daß der Dialog so lange provinziell war, wie er sich unter Beteiligten abspielte, die diesselben kulturellen Bezüge hatten, die des Abendlandes. Deshalb schlug ich vor, einen breiteren Maßstab anzulegen, zu einem Dialog der verschiedenen Kulturen oder Zivilisationen überzugehen, der den alten Dialog fortsetzen, aber über die europäische Halbinsel hinausreichen sollte. In all dem sehen Sie auch wieder, daß es keinen Bruch für mich gab. Es gab Augenblicke, wo Akzente gesetzt wurden, aber immer von demselben Problem aus: Kierkegaard und Marx, Abraham und Prometheus.
taz: Und der Punkt Ihrer Entscheidung, zum Islam zu konvertieren?
Roger Garaudy: Auch da..., ich mag das Wort „konvertieren“ nicht, denn es handelt sich um eine Vollendung meines Weges..., ich meine, das Problem, das sich dem Propheten stellte, als er „Staatschef“ in Medina geworden war, eine Gesellschaft von der Offenbarung ausgehend zu begründen, die ihm zuteil geworden war, das Problem dieser gesellschaftlichen Inkarnation der koranischen Lehre, wie ich schon sagte, ist eben auch das Problem meines Lebens... Im übrigen habe ich damals gesagt: Ich komme mit der Bibel unter dem einen Arm und dem Kapital von Marx unter dem anderen!
taz: Aber es wurde doch für Sie selbst auch zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einer Art Offenbarung oder zu einem Bekenntnis, da Sie vom Christentum enttäuscht waren...
Roger Garaudy: Nein, ich war nie vom Christentum enttäuscht... taz: ...von der Kirche, von den Institutionen...
Roger Garaudy: ...ich stelle fest, daß vom Konzil von Nicäa an eine Art Umkehrung des Christentums stattgefunden hat, es wurde zu einer Doktrin der Macht, wie es in dem Mosaik von Ravenna versinnbildlicht ist, wo Christus in der Uniform eines byzantinischen Generals auftritt; da sind wir schon sehr weit vom Gekreuzigten von Palästina entfernt, es ist also nicht das Christentum, sondern es sind die Kirchen..., es ist wie mit den Parteien... Und der Koran...? Leider kann ich auch nirgendwo einen islamischen Staat erkennen, genauso wenig wie einen christlichen, aber es gibt die Lehre des Koran, die mir wesentlich erscheint, die Erfahrung von Medina, das heißt, die Erfahrung eines Propheten, der an der Spitze eines Staates stand, eine einmalige Chance. Die Propheten Israels zum Beispiel waren gegen die Macht, sie standen in Opposition dazu, Jesus wurde von den Mächtigen umgebracht; zum ersten Mal nun gibt es einen Propheten, der an der Spitze eines Staates steht, was eine faszinierende Erfahrung darstellt.
taz: Da Sie nun zu Recht den christlichen Glauben und die Ursprünge des Christentums von der Kirche, den Institutionen, der Dogmatik usw. unterscheiden und zugleich in der islamischen Welt eine ähnliche Kluft zwischen Lehre und Tradition kritisieren, was bedeutet da Ihr Bekenntnis zum Islam?
Roger Garaudy: Es ist eine kranke Welt wie die christliche Welt, wie die ganze Welt, aber es ist nicht dieselbe Krankheit. In den Evangelien gibt es nichts, was eine politische soziale Doktrin darstellen könnte. Vielleicht gab es einen Moment, wo man sich wenigstens einen Einschnitt bei Jesus vorstellen könnte, als er sagte: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Dies war mitnichten die Versöhnung zwischen Politik und Religion, zu der es später gemacht wurde, die Religion für das Innere, die Politik für draußen. Für einen römischen Präfekten gab es nichts Aufrührerisches als diesen Spruch, denn, vergessen wir nicht, daß zu jener Zeit der Kaiser Gott war. Und da kommt einer wie Jesus und macht sich drauf und dran, dem Kaiser das Entscheidende seiner Macht zu rauben, seine Herrschaft über die Seelen -
dies ist ein wahrhaftig revolutionärer Anspruch und keineswegs eine Versöhnung. Wahre und falsche Propheten
Aber trotzdem gibt es nichts, was darauf hindeutete, wie eine ökonomische, politische und soziale Struktur beschaffen sein sollte. Während dessen gibt es im Koran durch die Macht des Faktischen, dem sich Mohammed in Medina, nicht in Mekka, gegenübergestellt sah, Hinweise, die man natürlich mit einem historischen Blick lesen muß. Als im Christentum eine Politik und eine Soziallehre aufgestellt wird, entsteht sie folglich außerhalb der Lehre des Evangeliums. Der Konstantinismus, der von Konstantin zur Konsolidierung seines Reiches etabliert wurde, ist das Gegenteil der Lehre Christi. Im Koran gibt es Hinweise: „Gott allein befiehlt, Gott allein besitzt, Gott allein weiß“ - kein Kaiser eben. Aber in der Geschichte stellten sich dann auch Verkehrungen seiner Lehre ein.
Doch im Koran bereits finden wir diese politische und soziale Dimension, der Islam als „Religion und Gemeinschaft“. Ich glaube, daß dies der entscheidende Gedanke ist. Das Christentum, wie es in den Evangelien steht, konnte mönchsartige Gemeinschaften hervorbringen, aber es gibt nichts, das uns ermöglichte, die globale Gesellschaft zu organisieren. Im Koran haben wir Prinzipien davon, die in historischen Formen vorgestellt werden, die natürlich überkommen sind, aber die historischen Antworten auf historisch aufgeworfene Probleme gehen auf absolute Prinzipien zurück und richten sich an alle, Juden, Christen wie Moslems. Es kommt darauf an, diese Prinzipien zu finden und von ihrem historischen Beispiel zu lösen - der Koran beruht auf einem dem Römischen Recht genau entgegengesetzten Prinzip: Im Römischen Recht gibt es den Grundsatz, von dem aus die Schlußfolgerungen abgeleitet werden; im Koran gibt es ganz im Gegensatz dazu ein Beispiel, von dem aus man zum dahinterstehenden Grundsatz zurückgehen und dann diesen Grundsatz auf neue historische Bedingungen anwenden muß. Deswegen liegt darin ein Instrument, das mir sehr wertvoll erscheint.
taz: Was die Offenbarung und die Relativität der menschlichen Erfahrung betrifft, so zitieren Sie immer wieder den berühmten Satz von Karl Barth: „Alles, was ich über Gott sage, das sage ich als Mensch über ihn.“ Wie bringen Sie diese Feststellung, also die Relativität der menschlichen Erkenntnis, mit der Offenbarung in Übereinstimmung, mit anderen Worten - dies ist natürlich eine Grundfrage jeder Offenbarungsreligion: Wie kann man gewiß sein, daß Gott durch einen bestimmten Menschen spricht und durch einen anderen nicht?
Roger Garaudy: Es gibt kein äußerliches Kriterium, um das zu bestimmen, kein Prüfstein, so wie man feststellen kann, ob ein Stück aus Gold ist oder nicht. Dieser hier ist ein Prophet, jener dort ist kein Prophet. Die Frage nach der Existenz
Nun ja, zunächst gibt es Stufen der Prophezeiung. Aber ich glaube nicht, daß man die Reihe der Propheten auf die uns bekannten beschränken kann. Vom heiligen Franz von Assisi zum Beispiel sagt man nicht, daß er ein Prophet war, und dennoch hatte er eine prophetische Sicht der Welt. Zum ersten Mal geht die Kirche, die bis dato eine
Kirche der feudalen Welt war, in eine andere Welt über, die des Volkes, und eröffnet eine neue Lesart des Evangeliums, die der feudalen Lesart im Stile eines Sankt Bernhard entgegensteht, der doch sein Zeitgenosse war. Soll man ihn nun einen Propheten nennen oder
nicht? Das ist keine Frage einer „appellation controlee“ wie beim Wein. Ich denke, das Prophetische ist immer ein Wagnis; deswegen kann es keine äußerlichen Kriterien dafür geben, wie man diesen Gedanken, daß alles, was ich über Gott sage, als Mensch sage, mit der prophetischen Offenbarung in Übereinstimmung bringen kann. Denn die Offenbarung des Propheten gibt uns eine Orientierung, aber ich bin nie gewiß, sie vollkommen interpretiert zu haben. Gott spricht in den Propheten, durch sie, aber es sind die Menschen, die sie lesen, und folglich ist für mich das Entscheidende daran, die Idee einer Offenbarung zu akzeptieren, ein Postulat. Aber es ist nicht nur ein Postulat, es ist der Glaube, es ist keine Religion - die Religion, sagt mein Freund Paul Ricoeur immer, ist eine Entfremdung des Glaubens -, aber der Glaube ist das Postulat, durch welches wir setzen, daß es eine Totalität gibt, einen göttlichen Willen, den wir aber nicht kennen. Setze ich dieses Postulat nicht, werde ich zum Götzendiener, ich werde die Nation oder den Sex oder das Geld, was Sie wollen, oder sogar diese oder jene religiöse Doktrin als Götter akzeptieren. Es ist eine Art und Weise der Relativierung, wenn ich sage: „Gott allein weiß„; das bedeutet, daß alles, was ich sage, immer nur vorübergehend, relativ ist. Aber wenn ich postuliere, daß Gott es weiß, treibt mich das weiter auf meiner Suche an, anstatt daß ich auf dieser oder jener Etappe innehalte und dort verbleibe.
taz: Als Gymnasiast fanden Sie eine Selbstbeschreibung in Form einer Metapher: „Ich bin eine Kugel, die ihrem Mittelpunkt nachläuft.“ Mehr als fünfzehn Jahre später (1948) haben Sie diesen Satz in Ihrem Roman „Le huitieme jour de la creation“ aufgenommen. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist es dort als Vorwurf gegen den Protagonisten Serge gemeint, er könne sich nicht entscheiden... Jahrzehnte später, in „Menschenwort“, kommen Sie wieder darauf zurück und fügen hinzu: „Aber diese Laufbahn ist eben der Mittelpunkt.“ Haben Sie heute noch etwas dazu anzumerken?
Roger Garaudy: Nein, Sie sehen es unter seinem kritischen Aspekt, wenn es sich auf Serge bezieht. Aber es ist meine ständige Kritik, ich muß diesen Mittelpunkt suchen, davon habe ich Ihnen erzählt. Im Grunde ist es die Suche nach diesem Mittelpunkt. Das Problem stand ganz am Anfang, aber noch heute habe ich es noch nicht ganz gelöst. Wenn ich es gelöst hätte, wäre ich ja ein Prophet, also jemand, der eine Offenbarung bringt, aber ich habe sie nicht. Unter dem positiven Aspekt betrachtet, ist eben diese Bahn selbst der Mittelpunkt. Das ist nicht einmal besonders originell. Wie Sie wissen, hat es Pascal schon gesagt: „Nicht den Sieg, sondern den Kampf muß man suchen...“ Ich würde es nicht wie Pascal ausdrücken, denn ich glaube schon, daß man den „Sieg“ suchen muß. Der Kampf ist kein Ziel an sich, ich war nie aus reinem Vergnügen Revolutionär oder überhaupt Aktivist... Auf das Ziel, den „Sieg“ kommt es an - und der ist in weiter Ferne. Aber es bleibt ein schönes Bild, die Kugel, die ihrem Mittelpunkt nachläuft, das heißt: ständiges Bemühen. Es drückt auf andere Weise aus, was ich vorhin gesagt habe: Die Totalität ist stets ein Postulat, ich postuliere, daß Gott alles weiß, aber an diese Totalität reiche ich nie heran. Wenn ich aber diese Totalität nicht postuliere, halte ich auf meinem Weg inne. Ich höre auf, meinen Mittelpunkt zu
suchen, ich habe mich in mir selbst eingerichtet, ich habe meinen eigenen Mittelpunkt, und ich bin nicht nur der Mittelpunkt von mir selbst, sondern von allem - das ist die Definition des Individualismus. Wenn ich also so viel von der Gemeinschaft spreche, dann soll dies eben genau das Gegenteil davon zum Ausdruck bringen, das heißt, mein Mittelpunkt liegt nicht in mir selbst, sondern im Anderen, in Gott, und daraus folgt, daß ich für das Los aller anderen auch verantwortlich bin. Und wenn ich „die anderen“ sage, dann meine ich damit nicht nur die anderen Menschen, sondern alles, im kosmischen Maßstab, schließlich sind wir keine Atome, die voneinander durch eine Leere getrennt sind. In meinen Erinnerungen versuche ich noch einmal, dem Streit zwischen Sartre und mir auf den Grund zu gehen, und am wesentlichen erscheint mir, daß sich Sartre letztlich im „cogito“ einrichtet, das macht ihn zum Solipsisten. Er selbst sagte ja, er sei aus dem Solipsismus nicht herausgekommen, und dies, weil er von der Vorgabe ausgegangen ist, daß es eine Urwahrheit sei, wie bei Descartes. Es geht immer wieder um dasselbe: Der Mensch beginnt mit seinem einsamen Bewußtsein. Das stimmt aber nicht! Er beginnt mit einer Tat, er beginnt nicht mit einem Gedanken, einer Wahrnehmung, er ist in einem Fluß der Kräfte, das ist die Urerfahrung. Die Erfahrung von Roquentin (in Sartres Der Ekel), sich die Frage nach der Existenz stellen, wenn man von der Welt verlassen ist, das ist schon ein falscher Ausgangspunkt. Das Sein und das Nichts war anschließend nichts anderes als diese eigentliche banale Erfahrung - „Alles ödet mich an..., was soll das Leben?“ in eine philosophische Form zu bringen. So bringt man die Menschen nicht weiter.
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